18.7.05

Die Lebe des Loepe II

Quasi vom einen auf den anderen Augenblick befand ich mich plötzlich in einer völlig neuen Umgebung.

Das Lehrlingsheim, in dem ich von seiten des örtlichen Jugendamtes untergebracht wurde, hatte aber auch so gar nichts von dem, was ich von vorher gewöhnt war:

Da war niemand mehr, der meine Angelegenheiten für mich erledigte. Das Haus war schmuddelig. In meinem Bett wimmelte es von Wanzen. Die "Einwohner" des Hauses waren zu einem nicht unerheblichen Teil vorbestraft. Ich befand mich das erste mal in einer Umgebung von ausschließlich Nichtbehinderten, das Essen war saumäßig, und... ich hatte keine Freunde. Naja, bis auf ein paar zweifelhafte Zeitgenossen, mit denen ich so etwas wie Umgang pflegte, mangels Alternativen versteht sich, aber Freunde waren das nicht.

Einer dieser Zeitgenossen war H.S., den ich von früher her kannte, der einzige Behinderte im "Club der Gestrauchelten". Aber H.S. hatte Talente, die mich beeindruckten! Mit zwei Fingern auf der einen und drei auf der anderen Seite war er locker dazu in der Lage war, auf beeindruckende Weise mehrere Instrumente zu beherrschen, u. a. Akkordeon, Orgel, Klavier, diverse Saiteninstrumente, Mundharmonika und Melodika). H.S. legte ein Selbstvertrauen an den Tag, daß mir fast schlecht wurde, und er verstand es immer wieder, nicht nur mich von seinen Qualitäten zu überzeugen, sondern auch jeden anderen. Auch wenn dieser gerade überhaupt gar keine Livemusik benötigte, so sah ich uns einige Zeit später dort für ein paar Mark und jeder Menge Bier den "Hochzeitsmarsch" spielen.

H.S. war ein "Weltreisender", der in allen möglichen Kneipen, Lokalen und anderen Etablisments zu hause war. Überall dort, wo Livemusik gespielt wurde, in diversen Ausflugslokalen in Königswinter und Rüdesheim, in Jugendheimen, in denen Rockkonzerte örtlicher Bands stattfanden oder in einer dieser unzähligen Kneipen der näheren Umgebung und anderswo.

Wir hatten schon früher das ein oder andere mal zusammen Musik gemacht und so taten die Umstände ihr Übriges: Wir taten uns auch jetzt für solcherlei "Aktivitäten" zusammen. Die Orteile für mich waren nicht von der Hand zu weisen:

Er hatte ein Auto, ich hatte keins, er hatte diverse Instrumente und eine Verstärkeranlage, ich nicht, und er hatte, weiß Gott woher, immer Geld in der Tasche und ich hatte... na? Keins natürlich!

Ich tat aber auch noch etwas anderes, wenn auch eher sporadisch. Vor meiner Entlassung in Rhöndorf hatte man mir von dort aus einen Platz in der Fachoberschule für Wirtschaft in Aachen und eine Praktikantenstelle besorgt. Und anstatt erstmal ordentlich die Sommerferien genießen zu können, mußte ich schon sehr bald nach meiner Entlassung diese Praktikantenstelle antreten.

Es war also einer dieser unseligen Tage, an denen ich nach "musikalisch" durchzechter Nacht und anstatt mich ins Bett zu legen, meinen Pflichten nachkommen mußte.
Es war ungefähr 07.00 Uhr morgens. Und in einer Stunde sollte ich mein Praktikum antreten. H.S. fuhr mich dorthin, das hatte er mir versprochen, nachdem er mir die eine oder andere weitere Stunde an der Theke abgerungen hatte. Und obwohl er dies in seinem Zustand nicht mehr hätte tun sollen, konnte er das Autofahren selbst in einer solch eindeutigen Situation nicht lassen.

Nein, er fuhr nicht gegen einen Baum oder so etwas, er brachte mich trotz seines eindeutigen Zustandes wohlbehalten zu meiner Praktikumsstelle, wo ich also nun vor der Tür dieser Firma auf einer Treppenstufe hockte und darauf wartete,daß mich einer dort hinein ließ.

Ziemlich abgerissen, naja, ich war zumindest nicht gerade stadtfein, also so wie man eben aussieht, wenn man die Nacht durchgemacht hat, saß ich da, als ich einen jungen Mann auf mich zukommen sah, der vielleicht 16 Jahre alt gewesen sein mußte. Er stellte sich selbstbewußt vor mich in Position und sprach mich an. "Na, hast Du auch heute deinen ersen Tag...?." sagte er.

Jedenfalls kamen wir ins Gespräch, wobei ich zu diesem Zeitpunkt kaum noch die Augen aufhalten konnte. Schnell hatte er begriffen, worum es ging. "Du siehst einigermaßen abgerissen aus", sagte er auf eine sehr direkte Weise, "warst Du überhaupt schon im Bett?"

Mit so etwas wie stolzgeschwellter Brust fing ich an zu erzählen, von meinen nächtlichen Streifzügen und wagemutigen Alkoholeskapaden, immer ausführlicher je mehr ich im Verlaufe unseres Gespräches feststellte, wie es mir gelang ihn zu beeindrucken. Und umso mehr entwickelte sich das ganz zu einem Art Monolog. Ich erzählte... und er hörte andächtig zu!

Herr M. war für mich zuständig. Auf seine Aufforderung hin nahm ich an demn für mich vorgesehenen Schreibtisch Platz. Er gab mir ohne mit der Wimper zu zucken eine Arbeit, erkläte sie mir kurz und ließ mich machen. Naja, zumindest so lange, bis ich mit meinem Kopf auf dem Schreibtisch landete, weil ich eingeschlafen war.

Es konnte nicht viel Zeit vergangen sein, als das Telefon schellte. Ich erschrak heftig. "Herr Epe, das Telefon schellt, würden Sie bitte mal abnehmen!" sagte Herr M. zu mir. Und ehe ich wußte wo die Glocken hingen, tat ich was er sagte, allerdings ohne zu wissen, was ich tat. Anschließend meinte Herr M., daß sei gar nicht so schlecht gewesen..., wenn man bedenke, daß ich während des Telefonates noch geschlafen hätte.

Nach einigen Tagen, ich hatte mich von meinem ursprünglichen Schlafdefizit etwas erholt, fand ich, es sei an der Zeit, zum Firmenchef zu gehen und mit ihm meinen Urlaub zu besprechen. Schließlich war ich nicht dazu gekommen, meine Sommerferien zu verleben, so wie ich es von früher her gewohnt war. Und ich war auch ein wenig erschöpft, von all den Tagen dieser einen Woche, an denen ich mehr oder weniger gearbeitet hatte.

Damit hatte ich allerdings nicht nur meinen Chef so wütend gemacht, daß ich fürchtete, er würde mich in den nächsten paar Sekunden ermorden. Ich machte mich auch zur Lachnummer meiner Kollegen. Nur mein selbstbewußter Mitpraktikant schien stolz auf mich zu sein. Ansonsten eher forsch und strebsam, bewunderte er mich insgeheim für meine Dreistigheit, gerade so als wenn er selbst gerne ein Stückchen davon ausleben würde.

Allerdings hatte ich dieses Vorgehen gewählt, ohne mir dabei irgendetwas zu denken, schon gar nicht wollte ich mich zum Gespött des ganzen Hauses machen.

Jedenfalls sagte der Firmenchef, er hieß Herr B.: "Nicht nur, daß sie gleich am ersten Tag nach durchzechter Nacht völlig alkoholisiert ihren Dienst angetreten haben. Nicht nur, daß sie gleich am ersten Tag mit dem Kopf auf dem Schreibtisch gelegen haben, um ein Nickerchen zu machen. Nicht nur daß sie... Und jetzt kommen Sie doch tatsächlich nach einer Woche zu mir und besitzen die Frechheit, mich um Urlaub zu bitten! Ich sage Ihnen was, sie können froh sein, wenn ich sie nicht auf der Stelle rausschneisse und jetzt an die Arbeit!"

Das hatte gesessen!

Also machte ich mich an die Arbeit und versuchte mich weiterhin anggestrengt an meine neue Umgebung zu gewöhnen. Schließlich gab es ja noch zwei Wochentage, an denen ich zwar eigentlich in der Schule sein sollte. Ich konnte die Zeit aber auch genau so gut dafür nutzten, mich um die wesentlichen Dinge des Lebens zu kümmern! Und einer dieser beiden Tage war ehedem der Samstag. Und wer geht Samstags schon zur Schule!

Also: Musik machen, Kneipen besuchen, Ausschlafen, wieder Musik machen, Kneipen besuchen, Ausschlafen...

So verging die Zeit, und als ich mir dann aus Anlaß der Zeugnisübergabe doch mal Zeit genommen hatte, in der Schule zu erscheinen, mußte ich feststellen, daß ich das Klassenziel nicht erreicht hatte. Nun hätte ich also entweder die Klasse wiederholen müssen oder ich würde etwas ganz anderes, etwas völlig neues anfangen.

Irgendwie hatte ich jedoch Gefallen daran gefunden, an diesem wundebaren Zustand des Nichtstuns, in Kneipen herumzuhängen, Musik zu machen, auszuschlafen... Bis..., ja und hier trat Tante O. wieder auf den Plan. Schwester A. hatte ohnehin zwischendurch immer wieder dafür gesorgt, daß ich nicht "vom Fleisch fiel" und das sich mein angekratztes Selbstbewußtsein immer mal wieder ein wenig erholte.

Tante O. sprach mir mir ins Gewissen. Und sie tat das auf ihre unverwechselbare Art. Und sie überzeugte mich! Sie überzeugte mich nicht nur. Sie nahm mich ans Händchen, damit die Dinge wieder auf die richtige Bahn kamen.

Tante O. kannte einen Berufsberater persönlich und schleppte mich zuum Arbeitsamt. Herr L. suchte ohne mit der Winmper zu zucken, eine Lehrstelle aus seinen Karteikarten. "Geh Dich da mal vorstellen, aber laß Dir Deine Beatfrisur schneiden und zieh Dir was ordentliches an!" sagte er. Nach dem Vorstellungsgespräch konnte ich sofort anfangen und heute weiß ich auch warum. Herr L. hatte Herrn O. einen Ausbildungszuschuß für Behinderte versprochen und das war ein Argument, daß Herr O. nicht ablehnen konnte.

Gleichzeitig hatte ich die Möglichkeit, aus dem Lehrlingsheim auszuziehen, was ich ohne mit der Wimper zu zucken auch sofort tat. Ich zog zu L. L. mit dem ich mir fortan eine Wohnung teilte und der mir in dieser schwierigen Zeit eine große Hilfe war, sowohl als Freund und Ratgeber als teilweise auch in finanzieller Hinsicht.

Ja, und wie soll ich sagen?

Nach dem ich tief gefallen war, so tief, daß mir der Boden unter den Füßen völlig abhanden gekommen war, konnte es ja eigentlich nur noch aufwärts gehen. Und so nach dem Motto "Mühsam ernährt sich das Eichhörnchen", ging es Schritt für Schritt mal nach vorne, mal nach hinten, aber insgesamt ganz sicher in die richtige Bahn.

Herr O. war der Hammer! Aber das ist wieder eine ganz andere Geschichte.

1 Kommentare:

At 9:43 PM, Anonymous Anonym said...

Klasse Lothar, ich bin total fasziniert, konnte nicht aufhören zu lesen - wenn es 100 Seiten gewesen wären, dann Schlaf ade
:-))).
Ich will mehr, bitte, bitte - wie war die Geschichte mit Herrn O..
LG von einer Verehrerin

 

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