30.6.05

Das leidige Thema Rollstuhl - ein Kampf, den ich längst gewonnen habe!

Mein Leben war und ist Abenteuer - doch allein das Ergebnis zählt und es ist gut so wie es ist. Ich bin, wie ich bin - und das bin ich vor allem auch durch das, was ich war! Deshalb versuche ich die Welt, die Menschen und das Leben möglichst bedingungslos zu lieben, in Freud und Leid. Ich bin jeden Tag dankbar für das was ich hatte, für das, was ich habe und für das, was das Leben noch an Überraschungen für mich bereit hält! So versuche ich jeden Tag meines Lebens mit einem Lächeln zu begrüßen!

Tja, das leidige Thema Rollstuhl!

Ich war eine begeisterte Fußgängerin ... bis mich meine Muskulatur vom Rücken her im Stich lies. Mehr und mehr hatte ich das Gefühl, beim Gehen zusätzlich einen Sack Kartoffeln auf meinen Beinen zu transportieren, der mich jeden Moment nach vorne kippen lässt.

Aber ich wäre keine Frau, wenn ich nicht geschickt genug gewesen wäre.... im Kaschieren, im Ausreden erfinden, im Kompensieren!

Wenn es um geplante Familienausflüge ging, erfand ich Ausreden wie "...ich hab die Kleine die ganze Woche", "...ich habe noch zu tun", "...ich habe Schmerzen...." - bis mein Mann irgendwann 1988 ein Machtwort sprach!

Die Konsequenz stand schon bald vor mir - mein erster Aktivrollstuhl, nicht besonders schön, aber praktisch. Es folgten andere, jeder wurde attraktiver...jetzt habe ich einen, den man "schön" nennen könnte.

Doch auch diesem ergeht es wie den anderen...ich lasse ihn so oft wie möglich im Kofferraum meines Autos, missen möchte ich ihn jedoch nie mehr - er und ich, eine "Zweckgemeinschaft" fürs Leben!

Klar, das ganze ist eine Gradwanderung, doch wenn man sich wie ich gerade das Laufen weitestgehend "abgewöhnt" hat und die Kraft nur noch für die Wohnung ausreicht und das Gehen sich auf die Strecke zwischen Haustür und Auto reduziert, dann hört man irgendwann auf, das Für und Wider abzuwägen.

Ja, jetzt bin ich eben eine Frau im Rollstuhl, eine die lächelt und die angelächelt wird. Jetzt bin ich keine Frau mehr, die sich als "Möchtegernfußgängerin" mit verbissenem Gesicht und hochkonzentrierten Schritten, mit ständigem Blick zur Erde (damit ich mich bloß nicht lang mache), vorwärts quält...die man zwangsläufig und minutenlang mit Blicken verfolgt, weil sie sooooo komisch läuft und die auf eine merkwürdige Art und Weise fasziniert, weil sie...na ja, was auch immer!

Vor 8 Jahren ergänzte ich meinen "Fuhrpark" durch einen e-fix, mit dem ich Arztbesuche und Einkäufe in der näheren Umgebung erledige, soziale Kontakte pflege und vieles mehr. Ich treffe mich nun wieder mit Freunden und Nachbarn, ich halte an jeder Ecke ein Schwätzchen, ich mache lange, selbständige Spazierfahrten, um nachzudenken und abzuschalten. Der Alltag gestaltet sich nun abwechslungsreicher, interessanter und macht einfach mehr Spaß!

Bleibt da noch das Problem des Be- und Entladens, wenn ich einmal ohne Begleitung unterwegs bin. Nun, das Problem ist eigentlich gar nicht wirklich eines. Ihr würdet staunen, wenn Ihr wüßtes, was man mit einem freundlichen Lächeln alles bewirken kann: Dieses in Kombination mit der Bitte um Hilfe an einen Mitmenschen, der gerade vorbeikommt...es hat noch keiner nein gesagt!

Mein Motto lautet in diesem Zusammenhang: "Besser gut gefahren, als schlecht gelaufen!" So ermöglichen mir meine Rollstühle u.a. den Duft der großen, weiten Welt zu schnuppern und mit einer gehörigen Portion Unabhängigkeit von A nach B zu gelangen. Und als Ruhrpottlerin würde ich sagen: Mein Aktivrolli ist mir das, was dem Manni sein Manta ist!

P.s.: Damit ihr neidisch werdet: Ich habe einen schicken 7 kg leichten Panthera aus Karbon mit airgebrushten Rädern!


Liebe Grüße an alle,

Ilke

Ich weiß Bescheid!

Ja, wie war das noch mal?

Es ist schon Jahre her, aber es kommt mir vor als sei es gestern erst gewesen!

Noch heute wache ich nachts auf, sitze kerzengerade im Bett und bin schweißgebadet!

Ich lag im Krankenhaus und eine Operation stand an. Wie üblich, kommt also der zuständige Anästhesist zu mir ins Krankenzimmer, um mit mir das Verfahren, die Risiken und den Verlauf der Operation zu besprechen. Er fragt nach Medikamenten, nach Vorerkrankungen....

"Prima", denke ich, "da werde ich ihm gleich mal etwas über Polios erzählen und über die Risiken, die bei Polios mit einer Narkose verbunden sind!"

"Ich bin mittlerweile PPSler....." "Ja, ja, das ist bekannt." "Aber....", versuche ich einzuwenden... Weitere Informationen von meiner Seite sind offensichtlich nicht erwünscht, denn die Visite ist zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat!

Am nächsten Tag, nach der erfolgreich verlaufenen Operation: Ich bin aufgewacht und realisiere, daß alles überstanden zu sein scheint, aber irgend etwas stimmt da doch nicht!

Statt der freundlichen Aufforderung: "Aufwachen... Fr. W. aufwachen!" heißt es: "Fr. W. atmen...atmen Sie, Frau W...." und du willst atmen, aber Du kannst nicht atmen! Du willst antworten, aber Du kannst gar nicht antworten! Denn du bekommst weder durch die Nase, noch durch den Mund auch nur einen Hauch von Luft!

Natürlich kannst Du dann auch nicht sprechen und denen sagen, daß Du keine Luft bekommst!

Du hebst deinen Brustkorb, aber ohne Erfolg und immer noch die Aufforderung: "...atmen...Frau W., atmen Sie!" Irgendwie scheint keiner zu verstehen, daß da etwas ganz entscheidendes nicht funktioniert!.

Ich denke: "das wars also!..." und will schon mit der Welt abschließen, in meinem Kopf läuft ein Film ab, in dem alles nochmal...na Sie wissen schon!

Da höre ich: "Maske, schnell die Maske, ....weiterbeatmen!" Endlich, endlich,endlich!
Ich bekomme wieder Luft und spüre plötzlich, wie das Leben weitergeht!!!

Wie war das nochmal? PPS? Ich weiß Bescheid?????

Liebe Grüße

Karin

29.6.05

Neulich beim... Rentengutachter

Heute ist der 28.06.2005. Es ist 06.15 Uhr und ich sitze kerzengerade im Bett.

Fast hätte ich mich verschlafen! Schätzungsweise 60 % der vergangenen Nacht war ich nicht in meinem Bett, sondern auf dem Ort, der wenig dazu geeignet scheint, sich dort auszuruhen, und schon gar nicht, um dort zu schlafen.


Auch bei vielen Spätfolgen-Betroffenen, unter anderem auch bei mir, führt eine "heftige negative emonotionale Erregung" wie die, die mich in den letzten Tagen mental ziemlich stark in Anspruch genommen hat, dazu, daß ich dieses Örtchen nicht nur des öfteren aufsuchen muß, sondern manchmal fast schon nicht mehr dort weg komme.

Ich habe heute mal wieder eine Untersuchung bei einem Rentengutachter, der darüber entscheiden wird, welche Entscheidung mein Rentenvesicherungsträger über die Frage treffen wird, ob ich weiterhin eine Rente wg. voller Erwerbsminderung bekommen werde oder nicht.

Die Untersuchung wird eine neurologische sein, da es zum einen darum geht, daß mein Rentenversicherungsträger wg. der vorhergehenden Gutachten einen "Psycho" aus mir gemacht hat. Das wiederum lag sicher auch daran, daß ich bei der Erstuntersuchung noch nicht mal einen blassen Schimmer davon hatte, daß so etwas wie Spätfolgen Polio/PPS überhaupt existiert. Und zum anderen wird es wohl vor allem um die Spätfolgen Polio/PPS gehen, was ja beides bekanntermaßen in den neurologischen Bereich gehört.

Völlig gerädert quäle ich mich also aus meinem Bett, mache mich fertig und fahre etwa um 7.00 Uhr los, weil der Termin um 8.00 angesetzt ist, und man weiß ja nie, der Berufsverkehr, die Parkplätze....

Natürlich komme ich voll in den Berufsverkehr, da ich zu einer Zeit in die Innenstadt fahren muß, in der ganz viele andere das wegen ihres dort gelegenen Arbeitsplatzes und den zu erledigenden Einkäufen etc. das auch tun.

Und natürlich habe ich Schwierigkeiten, einen geeigneten Parkplatz zu finden, der nicht nur in der Nähe der Praxis gelegen ist, sondern auch noch dazu geeignet ist, meinen Rollstuhl so aus dem Kofferraum "buchsieren" zu können, daß mir dabei nicht gleich "das ganze System zusammenbricht". Die mit dem "aG" verbundene Parkberechtigung für Rollstuhlfahrer hat mir das Versorgungsamt gerade verweigert, aber ich arbeite weiter daran!

Ich erreiche das Haus, in dem die Arztpraxis gelegen ist um Punkt 8.00 Uhr. Dabei stelle ich fest, daß der Eingangsbereich mit einer Rollstuhlrampe ausgestattet ist. Prima, denke ich, wenigstens mußt Du Deinen Rollstuhl nicht auch noch eine Treppe mit mehreren Stufen hochziehen oder gar draußen stehen lassen und Du hast dann hinterher gar keinen Rollstuhl mehr,weil ihn Dir jemand klaut oder so. Oder Du mußt Dir jemanden suchen, der dieses Hindernis für Dich überwindet.

Bei dem Versuch, die Rollstuhlrampe herauf zu fahren, stelle ich fest, daß die Rampe so steil ist, daß ich Sie mit meiner eigenen Muskelkraft im Rollstuhl gar nicht zu überwinden in der Lage bin. Also: raus aus dem Rollstuhl, Rollstuhl die Rampe hochgezogen und schon war ich drin! Nun, besser eine steile Rampe als gar keine!

Die Praxis liegt im zweiten Stock und ist mit dem Aufzug bequem zu erreichen. Ich bin dann letztlich ein paar Minuten nach acht in der Praxis, wo mir zuvor eine freundliche Arzthelferin unaufgefordert die Eingangstür aufhält.

Hoch erfreut, daß man mir die "minimale" Vespätung nicht übel nimmt(man weiß ja nie!), werde ich ins Wartezimmer geleitet, wo ich nur ein paar Minuten warten muß und schon gehts los!

Der Gutachter ist eine Gutachterin, die mir gleich erzählt, auch Sie habe im Kindesalter Polio gehabt. Ob das für die Begutachtung nun positiv ist oder negativ, bleibt abzuwarten!

Das Gespräch ist offen und freundlich, die Untersuchungen gründlich und offensichtlich qualifiziert. Alles in allem verbringe ich ca. 2 Stunden in der Praxis! Von diesen 2 Stunden fallen zeitlich gesehen etwas mehr als eine Stunde auf ein Gespräch, in dem die Neurologin mir irgendwelche Fragen stellt, von der Befragung über die vorliegenden gesundheitlichen Einschränkungen (Anamnese) einschließlich möglicher psychischer Aspekte (!) bis hin zur Biografie, also Kindheit, Ausbildung, Tätigkeiten, Familie etc.

Anschließend erfolgt die bereits erwähnte gründliche körperliche Untersuchung einschließlich dem bei neurologischen Untersuchungen obligatorischen EEG (Hirnströme messen usw.)

Insgesamt empfinde ich die Untersuchungen (naturgemäß) als sehr anstrengend, da sie mich mental sehr stark in Anspruch nehmen, aber in keiner Situation sind die Untersuchungen auf irgendeine Art erniedrigend oder gar menschenverachtend (da habe ich schon ganz andere Sachen erlebt!), und schon gar nicht wird mir (weder direkt noch indirekt) Simulanz unterstellt.

Natürlich weiß ich nicht, wie das Ergebnis aussehen wird, und das Thema wird mich noch eine ganze Weile mental in Anspruch nehmen:

Habe ich mich da vielleicht heute um Kopf und Kragen geredet? Habe ich vielleicht einen zu "fitten" Eindruck hinterlassen, hat mich die Gutachterin durch Ihre freundliche Art vielleicht nur aus der Reserve locken wollen? Glaubt die Gutachterin vielleicht wegen Ihrer eigenen Situation, daß das mit den Spätfolgen ja eigentlich garnicht so schlimm sein kann?...

... aber ich verlasse die Praxis trotz allem mit dem Gefühl, da hat man mich fair behandelt, da hat dich jemand qualifiziert untersucht und da hat Dich vor allem jemand ernst genommen!

Soweit meine heutigen Erlebnisse beim Rentengutachter, der eine Rentengutachterin war, und so mache ich mich völlig geschafft auf den Rückweg, einerseits erleichtert darüber, daß ich den Termin endlich hinter mir habe, andererseits mit einem flauen Gefühl im Magen und der Frage im Kopf: wie wird das ausgehen?

Da könnt Ihr sicher sein: Sobald ich ein Ergebnis habe, werde ich Euch davon berichten!



Herzliche Grüße!

Lothar

28.6.05

GruSi- was ist das und wer hat Anspruch?

Wer hat Anspruch auf Grundsicherung? (im laufenden Text einfach GruSi genannt)

Die GruSi wurde im Januar 2003 eingeführt (aktualisiert zum Januar 2005!).

Sinn und Zweck der Grundsicherung ist es, bestimmte Bevölkerungsschichten vor der „verschämten Armut“ zu schützen.

Von einer „verschämten Armut“ spricht man, wenn z.B. Rentner oder Erwerbsunfähige Mitbürger trotz einer sehr schlechten Rente aus reinem Schamgefühl keine Sozialhilfe beantragen.

Um diesem Umstand vorzubeugen, wurde die GruSi eingeführt. Der wesentliche Unterschied zwischen der GruSi und der „alten“ Sozialhilfe besteht vor allem darin, daß keine Rückgriffe auf Kinder und Eltern erfolgen, sofern das Jahreseinkommen der Kinder oder Eltern 100.000 € nicht übersteigt.

Soviel zur Theorie!

Wer hat aber wirklich Anspruch auf GruSi?

"Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist nach den besonderen Voraussetzungen Personen zu leisten, die das 65. Lebensjahr vollendet haben oder das 18. Lebensjahr vollendet haben und dauerhaft voll erwerbsgemindert sind, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, beschaffen können.

Einkommen und Vermögen des nicht getrennt lebenden Ehegatten oder Lebenspartners, die dessen notwendigen Lebensunterhalt übersteigen, sind dabei zu berücksichtigen."(Auszug aus SGB XII!)

Kurz gesagt, bedeutet das:
Alle die „normale Altersrente“ bekommen und jene, die eine volle Erwerbsminderungsrente auf Dauer bekommen, (also alle, die entgültig aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind) und bei denen das Geld zum Leben nicht reicht, haben Anspruch auf eine GruSi.

Aber das ist nur global betrachtet so!

Natürlich werden im einzelnen bei jedem Antrag die persönlichen Vermögensverhältnisse geprüft. Eine GruSi wird demnach nur dann gewährt wenn der Antragsteller wirklich fast kein Vermögen mehr hat (anders als bei AlgII sprich Hartz IV).

Das Schonvermögen bei einer GruSi beläuft sich leider nur auf 2600-. Und darin ist sogar noch der Wert des Autos zu berücksichtigen. Wenn man bedenkt, daß die meisten Schwerbehinderten auf ein Fahrzeug angewiesen ist, ist diese Regelung komplett unsinnig! Unter Schonvermögen versteht der Gesetzgeber jegliches Bargeld, Konten, Wertpapiere, Lebensversicherungen, Bausparverträge, Geldanlagen u.s.w., die den Grundfreibetrag nicht überschreiten. (Noch) nicht berücksichtigt werden darf Eigentum, solange es angemessen ist.

Soviel zu den Grundvoraussetzungen der GruSi.
Im nächsten Beitrag gibt es eine Beispielrechnung, damit man sich auch etwas konkretes unter der Grusi vorstellen kann!

Würde mich freuen zu hören wie es Euch so mit der Grundsicherung ergangen ist (sofern jemand diese beantragt hat). Last uns an Euren Erfahrungen teilhaben.

Liebe Grüße
Wesley

26.6.05

Die Lebe des Loepe I

Kurz vor meiner Geburt war mein Leben noch völlig in Ordnung: Ich befand mich in der Geborgenheit des Laibes meiner Mutter Eva-Maria und brauchte mich um nichts zu kümmern.

Doch unmittelbar nach meiner Geburt änderte sich mein Leben dramatisch....

Ich heiße Lothar Epe und wurde am 29.05.1955 in einem Mütter-Kind-Heim in der Nähe von Düsseldorf, in Meerbusch-Büderich bei Neuss geboren.

Und als ich mich mit dem Polio-Virus ansteckte, war ich längst im nächsten Kinderheim gelandet.

Wie auch immer, irgendwann zwischen Ende 1957 und Anfang 1958 erwischte es auch mich.

Als die Grippe mit anschließender Hirnhautentzündung abgeklungen war, blieb zunächst eine rechtsseitige Komplettlähmung zurück, die sich dann später auf eine Lähmung des rechten Beines reduzierte.

Nach einer regelrechten Tournee durch die Kinderheime Deutschlands landete ich 1960 im Vinzenzheim in Aachen, das damals noch Vinzenzkrüppelheim hieß und wo ich zunächst in der Kindergartengruppe unterbracht war. Dort blieb ich bis zu meiner Einschulung 1962.

Bevor dies passierte, hatte ich jedoch erst noch eine Operation hinter mich zu bringen, wo mir am rechten Fuß und am Unterschenkel irgendwelche Sehnen verkürzt wurden, was wohl eine Klumpfußbildung verhindern sollte.

Während der deshalb notwendigen mehrwöchigen Bettlägrigkeit trat nun Tante O. in mein Leben, die vom zuständigen Jugendamt gebeten worden war, meine inzwischen wieder vakant gewordene Vormundschaft zu übernehmen.

Tante O. ist (inzwischen 95 Jahre alt) eine ausgesprochen fromme und herzensgute Frau, die in ihrem eleganten Kostüm immer ein kleines bisschen so aussah wie eine Mischung aus Queen Elisabeth und einer guten Oma, das schneeweiße Haar zu einem eleganten Knoten geflochten und gebunden, die alle Menschen liebte, aber ganz besonders mich, weshalb sie sicher mehr war als nur ein Vormund und Mutterersatz. Sie hatte ganz entscheidenden Einfluß darauf, daß aus mir wenigstens ein einigermaßen vernünftiger Mensch geworden zu sein scheint.

Nach der Operation wurde ich mit einer Orthese und orthopädischen Schuhen versorgt, wobei es damals noch üblich war, den orthopädischen Schuh direkt in das Fußgelenk der Orthese einzuarbeiten (siehe auch Foto oben).

Nun kann man also wirklich nicht sagen, ich hätte eine völlig normale Kindheit gelebt, zumindest nicht im eigentlichen Sinne. Aber sind wir doch mal ehrlich, was ist denn schon normalim Leben? Und es hätte mich wirklich schlimmer treffen können!

Sicher, die Gruppe, in der ich nach meiner Einschulung untergebracht war, bestand aus 50 Jungen der unterschiedlichsten Altersgruppen und Behinderungen.

Sicher, die Gruppe wurde geleitet von katholischen Ordensfrauen, die die Toleranz nicht gerade mit dem großen Löffel gegessen hatten.

Sicher, das Wort Pädagoge kannte man in dieser Anstalt damals garnicht und die Erzieher hatten ihre Ausbildung in einem Schnellkurs der Volkshochschule gemacht und nicht bestanden, weil sie versehentlich in der Ausbildungsgruppe für Schuster gelandet waren.

Sicher, die Jungen- und Mädchengruppen waren strikt voneinander getrennt und jeder noch so unschuldige Blick auf die Gretel des Buchumschlages von Hänsel und Gretel zog härteste Bestrafungen nach sich.

Aber ich hatte Glück! Auch Schwester A., die Leiterin der Jungengruppe, liebte mich heiß und innig. Sie zog mich vor, wo es nur ging und versorgte mich ständig mit irgendwelchen Extras, wovon die anderen Jungen natürlich nichts erfahren durften, was aber trotzdem andauernd passierte.

Die Auswüchse als Folge hiervon waren unterschiedlich. Die eine Fraktion schlug sich einigermaßen bedingungslos auf meine Seite, um von meinen Extras und meiner durchaus wirkungsvollen Fürsprache bei Schwester A. zu profitieren.

Eine andere Fraktion stellte sich einigermaßen bedingungslos gegen mich und versuchte mir das Leben zur Hölle zu machen. Was beide Fraktionen miteinander verbandt: Sie waren eifersüchtig! Eifersüchtig auf die von mir genossenen Extras und Annehmlichkeiten. Beide Fraktionen überlebte ich vermeintlich schadlos!

Ebenso entscheidend für meine einigermaßen positive Entwicklung war die Tatsache, daß Schwester A. immer wieder und vor allem erfolgreich versuchte, mich vor den zahlreichen Wutausbrüchen des erzieherischen Personals zu schützen.

So wuchs und gedieh ich also unter den Fittichen von Schwester A. und Tante O., überlebte hierbei mehrere Anschläge des Geistlichen Direktors der Anstalt, der mehrmals die Meinung vertrat, ich sei eindeutig im falschen Institut untergebracht, und landete schließlich nach meinem Hauptschulabschluß in Rhöndorf a. Rh., wo ich eine dreijährige Handelsschule für Körperbehinderte besuchte, direkt unter den Augen des Geistes von Konrad Adenauer, dessen Haus von meinem Zimmer aus in ca. 300 Meter Entfernung (Luftlinie) bei klarem Wetter vor meinen Augen in vollem Glanz erstrahlte.

Und ich hatte schon wieder Glück. Denn Herr D. trat in mein Leben.

Herr D. war der leitende Erzieher des Instituts. Und anstatt mich vorziehen, wie ich das von Schwester A. gewohnt war, versuchte er mich zu integrieren, zu fördern, mir beizustehen, mir den Weg ins Leben zu weisen, so wie er es auch bei den anderen tat. Heute denke ich, daß auch das funktioniert hat.

Natürlich war auch hier alles reglementiert, auch hier befand ich mich in einer streng katholischen Anstalt. Und auch hier gab es einen geistlichen Leiter. Und auch Pater N. hielt mich für "einen faulen Apfel in der Gemeinschaft".

Trotzdem verlebte ich eine relativ unbeschwerte Zeit, trotz aller Reglementierungen waren die Dinge toleranter und offener geregelt.

Ich konnte plötzlich Dinge tun, die mir vorher nicht möglich waren. Ich ging in die Kneipe um die Ecke, ich hatte Freundinnen, ich konnte mir mir hier und da auch eine neue Hose, ein neues Hemd kaufen, ich ging zu Rockkonzerten ins nahegelegene Jugendheim, ich tat also Dinge, die andere auch taten.

Nun, die Zeit verging wie im Fluge. Und sie war zu Ende, ehe ich mich so richtig dran gewöhnt hatte. Und als sie zu Ende war, wurde mir schnell klar, daß es eine kurze Jugend war, die ich da genießen durfte. Denn von nun an gings erst bergab, erst einmal.Aber in einem Tempo, daß mir schwindelig wurde.